Methodik und Modellierung

Objektive Handlungsfähigkeit – Und Subjektivität als gegenständlicher Zeitwert


Die bisherigen Modelle zur Leistungserwartung (ALE), Fristdeformation und Schuldwerten haben gezeigt, dass sich die Bewertung von Handlungen nicht allein aus subjektiven Präferenzen oder verfahrensökonomischen Erwägungen ableiten lässt. Vielmehr ist eine objektive Handlungsfähigkeit zu bestimmen, die den realen Handlungsspielraum einer Einheit im Verhältnis zu normativen Erwartungen beschreibt. Parallel dazu erlaubt der objektive Wertvergleich, die tatsächliche Erfüllung mit dem normierten Sollwert in ein messbares Verhältnis zu setzen.

Objektive Handlungsfähigkeit: Wir definieren die objektive Handlungsfähigkeit \(H_i(t)\) einer Einheit \(i\) zum Zeitpunkt \(t\) als Quotient aus realisierbarer Handlungskapazität und normativ geforderter Handlungskapazität:

\(
H_i(t) = \frac{C_i^{\mathrm{real}}(t)}{C_i^{\mathrm{norm}}(t)}.
\)

  • \(C_i^{\mathrm{real}}(t)\): tatsächlich verfügbare Kapazität (z.,B. Zeit, Ressourcen, Mittel)
  • \(C_i^{\mathrm{norm}}(t)\): normativ geforderte Kapazität (z.,B. Fristvorgaben, gesetzliche Anforderungen)

Ein Wert \(H_i(t) \geq 1\) bedeutet, dass die Einheit objektiv handlungsfähig ist; Werte \(H_i(t) < 1\) zeigen eine strukturelle Unterdeckung.

Objektiver Wertvergleich: Analog zur ALE definieren wir den objektiven Wertvergleich \(V_i(t)\) als Verhältnis von realem zu normiertem Wert:

\(
V_i(t) = \frac{W_i^{\mathrm{real}}(t)}{W_i^{\mathrm{norm}}(t)}.
\)

  • \(W_i^{\mathrm{real}}(t)\): tatsächlich erbrachter Wert (z.,B. Schuldtilgung, Leistungserfüllung)
  • \(W_i^{\mathrm{norm}}(t)\): normativ erwarteter Wert (z.,B. Sollbetrag, Benchmark)


Damit gilt: \(V_i(t) = 1\) bei vollständiger Erfüllung, \(V_i(t) < 1\) bei Untererfüllung, \(V_i(t) > 1\) bei Übererfüllung.

Zusammenhang zwischen Handlungsfähigkeit und Wertvergleich: Die beiden Größen sind nicht unabhängig, sondern stehen in einem funktionalen Zusammenhang:

\(
V_i(t) \approx f\bigl(H_i(t), \Delta T_i(t)\bigr),
\)

wobei \(\Delta T_i(t)\) die Fristdeformation darstellt.

Interpretation: Ist \(H_i(t) < 1\) und \(\Delta T_i(t) < 0\), sinkt die Wahrscheinlichkeit einer normgerechten Erfüllung drastisch. Ist \(H_i(t) \geq 1 \), kann auch bei negativer Fristdeformation ein Wertvergleich \(V_i(t) \approx 1\) erreicht werden. Übererfüllung \( \left(V_i(t) > 1\right) \) setzt in der Regel \(H_i(t) > 1\) voraus, also eine objektive Überkapazität.


Die objektive Handlungsfähigkeit bildet die Grundlage für die Erfüllung normativer Erwartungen. Der objektive Wertvergleich ist das messbare Resultat dieser Fähigkeit im Verhältnis zur Fristdeformation. Damit wird die ALE nicht nur als abstrakter Index, sondern als konkrete Funktion von Handlungskapazität, Zeitfaktor und Wertrelation interpretierbar.

Konsistenzminimum für objektive Handlungsfähigkeit

Transaktionen müssen auf einer realen Substanz basieren. Ein Konsistenzminimum sichert, dass jederzeit ein Mindest-Vermögenswert vorhanden ist, um eine echte Rechtswirkung zu entfalten und Scheingeschäfte auszuschließen.

Tatsächliche Werte über Zeit und Kategorien: Sei für jede Einheit \(i\) und Vermögenskategorie \(k\) der tatsächliche (reale) Wert zum Zeitpunkt \(t\)

\( A_{i,k}(t) \quad (\text{z.,B. Bankguthaben, Immobilien, Beteiligungen}). \)

Wir betrachten ein Zeitfenster \([t_0-H,\,t_0]\), in dem die Substanz stabil gehalten werden muss.

Definition des Konsistenzminimums: Normativer Mindestwert (objektive Handlungsfähigkeit).

Es sei;

\( W_{\min}\;>\;0. \)

Substanzindikator Infimum im Fenster:

\( \mathrm{Substanz}_i = \inf_{t \in [t_0-H,\,t_0]} \frac{\sum_{k} A_{i,k}(t)}{W_{\min}} \quad \text{mit} \quad \mathrm{Substanz}_i \ge 1 \)

– erst wenn \(\mathrm{Substanz}_i\ge1\) gilt, liegt eine hinreichende reale Vermögenssubstanz vor.

Konsistenzprüfung von Schuldverhältnissen und Perspektivabweichung

Die Konsistenzprüfung aller Schuldverhältnisse soll sicher stellen, dass die rechtlich bestimmten Soll-Verpflichtungen (Verträge, gesetzliche Pflichten, Beteiligungen/Bürgschaften) mit den tatsächlich beobachtbaren Zahlungs- und Leistungsströmen übereinstimmen. Zentrales Anliegen ist, aus der Perspektive der Schuld- und Rechtsverhältnisse einen konkreten Nachweis zu führen: Im Normalbedarfsfall dürfen sich die wahrscheinlichsten Personenverhältnisse nicht widersprechen. Zugleich ist die Perspektivabweichung zu berücksichtigen: Scheinbar konsistente Daten (z. B. pünktliche Zahlung) können eine abweichende Realität kaschieren (Stundungen, Nebenverpflichtungen, verdeckte Haftungen), die den wahren Erfüllungsgrad unterschätzt oder überschätzt.

Für jedes Verhältnis \(k\) betrachten wir periodisierte Soll- und Ist-Werte (z. B. monatlich), zeitliche Lage (Fälligkeit vs. Zahlung), Nebenbedingungen (Stundung, Ratenplan), sowie off-balance Risiken (Bürgschaft, Patronat, Eventualverbindlichkeiten).

Sei \(k \in \mathcal{K}\) ein Schuldverhältnis in der betrachteten Periode \(t\). Dann sei;

\( \text{Konsistenz}_{k,t} = \)

Fall 1: \(1, \text{wenn } \text{Ist}_{k,t} \text{ frist- und betragsgerecht } = \text{Soll}_{k,t} \)

Fall 2: \(0, \text{sonst}\)

\(\Delta_{k,t} = \frac{\text{Ist}_{k,t}}{\text{Soll}_{k,t}} – 1 \) Perspektivabweichung als normierte Erfüllung

Signifikanzschwelle \(\tau_k \ge 0\) (tolerierte Abweichung, z. B. \(5\%\) für existenzkritische, \(10\%\) für sonstige Pflichten).

Erweitere Sicht um verborgene Lasten und Timing:

\(\phi_{k,t} = \mathbb{1}\{\text{Stundung}/\text{Ratenplan}/\text{Verzug} \lor |\text{Ist}_{k,t-\ell}-\text{Soll}_{k,t-\ell}|>\tau_k \cdot \text{Soll}_{k,t-\ell} \text{ für ein } \ell \le L\} \)

\(\psi_{k,t} = \mathbb{1}\{\text{Off-balance-Risiko aktiv: Bürgschaft/Patronat/Ereignisnähe}\} \)

Täuschungsindikator (scheinbare Konsistenz trotz substantieller Abweichungs- oder Risikohinweise):

\( \text{Täuschung}_{k,t} =\)

Fall 1: \(1, \text{wenn } \text{Konsistenz}_{k,t}=1 \ \land \ \big(|\Delta_{k,t}|>\tau_k \ \lor \ \phi_{k,t}=1 \ \lor \ \psi_{k,t}=1\big) \)

Fall 2: \(0, \text{sonst}\)

Konsistenzindex und Täuschungsquote über die Menge wesentlicher Schuldverhältnisse \(\mathcal{K}^*\) (z. B. Normalbedarfs-/Pflichtmenge):

\(\text{KI}_t = \frac{1}{|\mathcal{K}^*|}\sum_{k \in \mathcal{K}^*} \text{Konsistenz}_{k,t}\)

\(\text{TQ}_t = \frac{1}{|\mathcal{K}^*|}\sum_{k \in \mathcal{K}^*} \text{Täuschung}_{k,t}\)

\(\text{Effektive Konsistenz: } \quad \text{KI}^{\text{eff}}_t = \max\{0,\ \text{KI}_t – \gamma \cdot \text{TQ}_t\}, \quad \gamma \in [0,1]\)

Restdistanz zum Ausschlusskriterium und objektive Abweichung

Die Restdistanzanalyse quantifiziert, wie nah ein Fall an der Erfüllung aller Ausschlusskriterien liegt. Sie zeigt den kleinsten Puffer zu den definierten Schwellenwerten und macht sichtbar, welche Bedingung als erste verletzt würde. Dies ermöglicht eine präzise Beurteilung, ob ein Ausschluss mit hoher Bestimmtheit vertretbar ist.

Für Einheit \(i\) gelten:

\(\text{Margin}_{\mathrm{ALE}} = \mathrm{ALE}_i – \theta_{\mathrm{ALE}},\)

\(\text{Margin}_{\mathrm{KI}} = \mathrm{KI}^{\mathrm{eff}}_i – \theta_{\mathrm{KI}}\)

\(\text{Margin}_{S} = \theta_S – \mathcal{S}_i, \label{eq:margin_s}\)

\(\text{Margin}_{\Delta} = \min_{k} \left( \tau_k – \left|\Delta^{(k)}_i\right| \right),\)

\(D_i = \min\{\text{Margin}_{\mathrm{ALE}},\ \text{Margin}_{\mathrm{KI}},\ \text{Margin}_{S},\ \text{Margin}_{\Delta}\}. \)

\(D_i>0\) bedeutet: alle Bedingungen erfüllt, kleinster Puffer \(D_i\).

\(D_i<0\) bedeutet: mindestens eine Bedingung verletzt, Betrag = minimale Korrektur zur Grenze.

Interpretation:

  • Fall A: Alle Bedingungen erfüllt, aber \(M_\Delta=0\) zeigt, dass eine Kategorie exakt an der Toleranzgrenze liegt – Ausschluss möglich, aber Beleglage muss hier besonders solide sein.
  • Fall B: Ausschluss scheitert an ALE, KI und Kategorieabweichungen; kleinste notwendige Korrektur: Reduktion der größten Kategorieabweichung oder ALE-Anhebung und KI-Anhebung.
  • Fall C: Deutliche Verletzungen in allen Dimensionen, größte Hürde ist die Konsistenz \(Margin_{\mathrm{KI}}\).

Minimale Anpassung zum Ausschluss: Gesucht ist die kleinste Änderung der Indikatoren, die alle Bedingungen erfüllt:

\( \min_{\delta} \quad \alpha_1\sum_k |\delta_k| + \alpha_2|\delta_{\mathrm{ALE}}| + \alpha_3|\delta_{\mathrm{KI}}| + \alpha_4|\delta_S| \nonumber\)

\(\text{s.d.} \quad |\Delta^{(k)}_i+\delta_k| \le \tau_k,\ \forall k, \nonumber\)

\( \mathrm{ALE}_i+\delta_{\mathrm{ALE}} \ge \theta_{\mathrm{ALE}}, \nonumber\)

\( \mathrm{KI}^{\mathrm{eff}}_i+\delta_{\mathrm{KI}} \ge \theta_{\mathrm{KI}}, \nonumber\)

\( \mathcal{S}_i+\delta_S \le \theta_S. \nonumber \)

Die Gewichtungen \(\alpha_\bullet\) priorisieren realistische Hebel (z. B. Verbesserung der Konsistenz vor kosmetischen Anpassungen).

Objektive Maßstäbe zur Abweichungsprüfung

Für jede Kategorie \(k\):

\(u^{(k)}_i = \sqrt{\left(\frac{u(\mathrm{Ist}_{i,k})}{E_{i,k}}\right)^2 + \left(\frac{\mathrm{Ist}_{i,k}\,u(E_{i,k})}{E_{i,k}^2}\right)^2}, \)

\(\text{Test:} \quad |\Delta^{(k)}_i| + z_{0.95}\cdot u^{(k)}_i \le \tau_k. \)

Unsicherheit der ALE:

\(u(\mathrm{ALE}_i) \approx \frac{1}{\sum_k \rho_k} \sqrt{\sum_k \rho_k^2 \cdot u^{(k)2}_i}. \)

Konservativer ALE-Test:

\(\mathrm{ALE}_i^{-} = \mathrm{ALE}_i – z_{0.95}\cdot u(\mathrm{ALE}_i) \ge \theta_{\mathrm{ALE}}.\)

Beleglage bei engen Margins: Je kleiner der Puffer \(D_i\), desto höher der Beweisstandard:

  • Bei \(D_i \approx 0\): Vollständige Dokumentation der relevanten Soll-/Ist-Daten, Nachweise für fristgerechte Erfüllung, keine verdeckten Lasten.
  • Bei \(D_i < 0\): Klare Benennung der verletzten Bedingung und der notwendigen Korrektur, um die Schwelle zu erreichen.

Einbindung in die Konsistenzprüfung

Erweiterung des effektiven Konsistenzindex (\(\mathrm{KI}^{\mathrm{eff}}_i\):

\(\mathrm{KI}^{\mathrm{eff,sub}}_i = \mathrm{KI}^{\mathrm{eff}}_i \;\times\; \min\{\mathrm{Substanz}_i,\,1\}. \)

Nur bei vollem Substanznachweis (\(\mathrm{Substanz}_i\ge1\)) bleibt die Konsistenz unverändert; andernfalls wird \(\mathrm{KI}^{\mathrm{eff}}_i\) proportional herabgesetzt.

Restdistanz mit Substanzminimum: Zusätzlich zu den Margins aus Abschnitt[1]Restdistanz definieren wir

\(\text{Margin}_{\text{Substanz}} = \mathrm{Substanz}_i – 1,\)

und die Gesamt-Restdistanz

\(D_i = \min\{\dots,\ \text{Margin}_{\text{Substanz}}\}. \)

Ein negativer Wert weist auf unzureichende reale Substanz hin und verhindert den Ausschluss.

Anpassung der Entscheidungsregel: Ausschluss (echte Rechtswirkung) nur, wenn zusätzlich

\(\mathrm{Substanz}_i \ge 1 \quad \Longleftrightarrow \quad \text{Margin}_{\text{Substanz}}\ge0. \)

Eingrenzung, sobald \(\mathrm{Substanz}_i<1\) (potenzielles Scheingeschäft).

Damit ist das Konsistenzminimum als letzte Schranke implementiert: Es sichert die reale Vermögenssubstanz gegen zeitliche Ausreißer und verhindert formalistische Ausschlüsse ohne echte wirtschaftliche Deckung.

Risikofunktion

Integration in den Gesamtscore, z. B. ergänzend zu ALE:

\(\mathcal{S}_t = \sigma\!\Big(\beta_0 + \beta_1\,(1-\text{KI}^{\text{eff}}_t) \)

\(+ \beta_2 \sum_{k \in \mathcal{K}^*} \max\{|\Delta_{k,t}|-\tau_k,0\}\)

\(+ \beta_3 \,\text{TQ}_t\)

\(+ \beta_4 \,\mathrm{CashShare}_t\)

\( \Big),\ \ \sigma(x)=\frac{1}{1+e^{-x}} \)

Entscheidungsregeln (Ausschluss/Eingrenzung), analog zu \(\mathrm{ALE}\), nun mit KI-Komponente:

\(\text{Ausschluss:} \) \( \text{KI}^{\text{eff}}_t \ge \theta_{\text{KI}} \land \sum_{k} \max\{|\Delta_{k,t}|-\tau_k,0\}=0 \land \mathcal{S}_t < \theta_S \)

\( \text{Eingrenzung: } \) \( \text{KI}^{\text{eff}}_t < \theta_{\text{KI}} \ \lor\ \sum_{k} \max\{|\Delta_{k,t}|-\tau_k,0\}>0 \ \lor\ \mathcal{S}_t \ge \theta_S \)

References

References
1 Restdistanz